Der „Berliner Boden“ im Gebäudetrakt der KFW Bankengruppe in Berlin von Reinhard Roy wird in seiner Bedeutung erst verständlich, wenn man ihn mit dem Gesamtwerk des Künstlers in Zusammenhang bringt. Der Boden ist 10 Meter breit und 14 Meter lang. Verlegt sind Platten aus grünem Marmor, 55 x 80 cm, mit orangen Kreisflächen in den Schnittpunkten, Durchmesser 30 cm. Die rechteckigen, hell gemaserten Marmorflächen stehen quer zur Länge des Raumes. Ein breites Marmorband umrandet die Fläche. Sie setzt sich von den Seitenwänden mit den Portalen und Durchgängen als etwas Selbständiges ab und betont durch Abgrenzung den latenten Bildcharakter des Werkes. Ein zusätzlicher Reiz sind die Spiegelungen der Wände im hochpolierten Boden.
Aufgehoben oder zumindest relativiert durch die Rasterung werden der Unterschied zwischen einer positiv zu interpretierenden oberen Zone und einer lastenden unteren und die Teilung in eine entweder als geschlossen oder als offen empfundenen Seite. Diese gestaltpsychologischen Phänomene spielen in der konventionellen Malerei eine wichtige Rolle. Ohne sie gibt es keine kompositorische Gestaltung, ihr Prinzip ist der Ausgleich zwischen gegensätzlichen Massen und die logische Abgrenzung des Bildes nach außen. Entsprechend dem Motiv bilden sich inhaltliche Schwerpunkte, notwendige und im Gegensatz dazu kontingente Teile, die das Bildganze nicht wesentlich beeinflussen.
Bei Roy hat jeder Punkt auf der Fläche das gleiche Gewicht. Die Fläche ist an den Rändern unabgegrenzt und auf Weite angelegt, sie setzt sich potentiell außerhalb des Bildes fort. Entscheidend ist ihre geometrische Struktur. Nicht zentralperspektivische Tiefenwirkungen oder Kompaktheit sind hier bestimmend, sondern extreme Frontalität und die Durchlässigkeit der Flächen.
Eine rigorose Modifikation des künstlerischen Konzepts von Reinhard Roy durch die räumliche Situation ist der „Berliner Boden“. Der Wechsel von der Vertikalität seiner Bilder ins Horizontale erschließt neue Möglichkeiten und Resultate. Die Stellung des Rezipienten ist völlig verändert. Als Basis ist der Bildgrund begehbar. Der Betrachter befindet sich im Bild und nicht davor. Er überblickt die Fläche nun nicht mehr von einer einzigen Stelle aus als etwas Ganzes, sondern er ist gewissermaßen Teil des Werkes, das sich für ihn durch das Abschreiten des Raumes dauernd verändert. Er gewinnt nur Ausschnitte, die Gesamtheit des Bodens setzt sich zusammen aus Sichtbarem und Erinnertem. Das trifft auf die Wahrnehmung im Allgemeinen zu. Die Wirklichkeit wird nicht auf einmal erfasst, sondern nur nach und nach, wobei der weitaus größere Teil unsichtbar bleibt. Die Reihung der Punkte, ihr Abstand und ihre Größe im Verhältnis zur Fläche bestimmen die Dichte des Rasters und damit das Erscheinungsbild insgesamt. Von Reinhard Roy gibt es mehrere Werke mit einem ähnlich weiten Raster, der auf Leichtigkeit zielt. Im Unterschied zu Bildern von ihm mit dicht gerasterten Farbflächen und farbigen Schichtungen kommt der Farbe hier eine besondere Bedeutung zu. Beim „Berliner Boden“ wird aus der Frontalität perspektivische Tiefe, bedingt durch unsere Sehweise, die im Dreidimensionalen durch Distanz die Dinge reduziert und verändert. So erscheinen die Kreisflächen jetzt als Ovale, ausgenommen die unmittelbar von oben gesehenen, die Fläche artikuliert sich als Nähe und Ferne, je nach dem Standort des Betrachters, die Homogenität des Grundes ist nur eine gedachte, keine direkte in der Anschauung. Eine Gleichzeitigkeit in der Präsenz der Teile wie im Vertikalen ist nicht mehr möglich. Das Übergreifen der Fläche in den Umraum wird durch das Marmorband eingeschränkt. Gerade die Differenz dieses Werkes zu den übrigen Arbeiten Roys und zugleich seine Beziehung zu ihnen, verweist auf zusätzliche Formen der Gestaltung innerhalb seines künstlerischen Konzepts.
Heinz Gappmayr