Jede Begegnung mit der Kunst von Reinhard Roy stellt sich früher oder später, in erster Wahrnehmung oder aus reifer Überlegung auf das Element ein, aus dem wir Beginn und Ende haben, auf den Punkt. Es ist die Begegnung mit dem Punkt in thematischer Vielfalt: als Element subtiler Rasterordnungen in der Malerei, als Element von Konstellationen in Papierarbeiten und anderen Stoffen, als individueller Pol in skulpturalen Körpern, als symbolische Konnotation. Die Aufzählung kann auch in umgekehrter Reihenfolge durchgeführt werden. Und nun, um gleich auf den Punkt zu kommen, auf den schon Kandinsky 1926 im Bauhaus kam: auf den Punkt als Grundelement. Er hat ihm einleitend in seinem Buch „Punkt und Linie zu Fläche“ einige Seiten gewidmet, die man zutreffend und quasi als eine Wiederbegegnung im Werk von Reinhard Roy voraussetzt.
Kandinsky: Der geometrische Punkt ist ein unsichtbares Wesen. Er muss also als ein unmateriel-les Wesen definiert werden. Materiell gedacht gleicht der Punkt einer Null. In dieser Null sind aber verschiedene Eigenschaften verborgen, die „menschlich“ sind. In unserer Vorstellung ist diese Null – der geometrische Punkt – mit der höchsten Knappheit verbunden, d.h. mit der größten Zurückhaltung, die aber spricht. Reinhard Roy setzt dieses Grundelement in doppelter Eigenschaft ein: als mathematische Größe, die empirisch definiert wird sowie als Zentrum eines Kreises oder in zwei Polen womit es den empirischen Dialog verlässt zugunsten des Punktes als Universale. Der Künstler macht dadurch deutlich, dass Geometrie in der Kunst auf differenzierte Weise verwendet werden kann, nicht zuletzt auch für metaphysische Inhalte. Schließlich kann man durch die Begegnung mit Roy eines großen Wortes einsichtig werden, nämlich zum Beispiel mit der Erfahrung des Mystikers Meister Eckhart: „Alles in einem, in einem alles.“ Es ist auffallend, dass nicht wenige Dichter der Konkreten Poesie zum Grundelement „Punkt“ ein analoges Verhältnis besitzen und vom Punkt aus ihre Expeditionen ins Sprachspiel unternehmen. Und in der Tat wird der Betrachter der Kunst von Roy ebenso oft poetisch verführt wie rein mathematisch gefordert. Es ist diese integrierte Balance zweier Arten der Weltbegegnung, so enigmatisch wie pragmatisch, die sein Werk zu einer stets faszinierenden Erfahrung werden lässt.
Die Ambivalenz als Grundzug in Reinhard Roys Kunst ist aber auch da wirksam, wo sie vielleicht am wenigsten vermutet wird, nämlich im besonders umfangreichen Werk der komprimierten Rasterarbeiten.
Heinz Gappmayr, ein konzeptuell-konkreter Dichter, hat sich des Rasterwerks eingehend angenommen, wobei er auf das klare Credo des Künstlers selbst bauen konnte. Roys Selbsterkenntnis konzentriert sich dabei auf die Feststellung, dass der Punkt das charakteristische Ausdrucksmittel seiner Arbeit sei. Und ebenso charakteristisch sei die Brauchbarkeit der Punktraster für in beliebige Richtungen erweiterbare Strukturen, was in homogener oder heterogener Form Möglichkeiten für die künstlerische Arbeit bieten würde. Roy hat mit den Rasterarbeiten bzw. den Farbrasterfeldern ganze Areale ungewöhnlich differenzierter Gestaltungslösungen zwischen Mathematik und psychophysiologischem Netzwerk entstehen lassen. Sie vereinigen oft Bezugssysteme, deren Wahrnehmung Geschehensverläufe bieten, die ihresgleichen in der Kunst suchen.
Reinhard Roys Rasterarbeiten sind als informations-ästhetische Ereignisse ein einzigartiges Kapitel der konstruktiv-konkreten Kunst. Doch ebenso attraktiv und bedeutend ist der andere Grundzug der auf den Punkt aufbauenden Kunst. Hier hat der Punkt meist die Form eines dunklen kleinen Kreises und tritt dementsprechend nicht in Strukturfeldern, sondern in Reihen und Folgen auf. Er stiftet philosophische Überlegungen, z.B. über das Sein oder die Radikalität der Existenz. Denn die Situation einer auslaufenden Punktereihe auf hoher Stele stellt Fragen, z.B. über das Ende einer Folge generell. Roy hat Folgen vorgegeben, wo der richtige Endpunkt außerhalb liegen muss und das wahre Ende unübersehbar ist. Manchmal führt er aber die strenge Ordnung eines Punktefeldes ganz oben tatsächlich auch zuende, jedoch unerreichbar in der Vertikalität.
Wieder eine andere Funktion wird ersichtlich in den Papierarbeiten. Da wirkt die Umgebung stofflich morbid, alltäglich. Der Punkt wird hier eindeutig zum Kreis erweitert. Der Kreis, das dunkle Loch, ist ein Durchblick. Darunter schimmert eine andere Lage Papier hindurch. Diese Papierarbeiten sind das ganz andere in der Begegnung mit Reinhard Roy. Anstelle der Mathematik eines punktgenauen Farbrasters folgt nun die Punktgenauigkeit des realen Lebens. Hier sprechen Punkt und verborgene Eigenschaften. Es sind die „menschlichen“, die Kandinsky erkannt hat. Ein anderer Beobachtungsschritt führt zu Objektstudien und zu raumfüllenden Objekten in vollkommener Ausführung. Selbstverständlich bleibt alles beim Grundelement Punkt. Es sind die Arbeiten der Reife.
Der Punkt kann Röhre sein, Kanal, Querschnitt in Kreisform. Aber er ist da und begleitet geheimnisvoll. Er lässt Roy nicht los und Roy umgekehrt ihn auch nicht.
Der Punkt als Universale meint nun, dass das Allgemeine dem Individuellen innewohnt, das heißt, Vorrang hat das Ganze. Die Konzentration auf das Rund des Punktes erfordert Materialpräsenz, erweckt körperliches Dasein. Es kommt nun auf gefühlte Verhältnisse an. Wie viel Fläche, wie viel Körper steht im Verhältnis zu diesem einen dunklen Punkt, der schon lange zur Achse geworden ist, zu einer Art Nut? Das denkwürdigste Ereignis im Verhalten von punktueller Konzentration eines Körpers ist hier ein zweiteiliges Objekt aus Stahl. Es präsentiert sich offensichtlich in zwei Dingen, die zusammengehören und die Verlockung ihrer Vereinigung erweckt, quasi Trichter und Einsatz. Das kann einer schaffen und fordern, der den Punkt kennt, auf den es ankommt. Die zweiteilige Stahlskulptur, ausgewählt für den Wohnsitz des deutschen Bundespräsidenten, hatte ihren Standort bis vor einem Jahr im Park der Villa Bellevue in Berlin. Ihre Idee der Vereinigung, der dauernde Reiz des Vollzugs sind ein wahrhaftig würdiges Symbol.
Nicht so repräsentativ wie die Stahlskulptur ist ein Objekt in Holz, weiß lackiert. Mit ihm ist der Anspruch der Dominanz des Zeichens „Punkt“ übergegangen auf eine neutrale runde Gestaltung. Der Punkt ist beim Kreis angekommen. Wer jedoch vorbereitet ist durch alle vorgängigen Werkphasen mit dem dominanten Punkt erkennt das Grundelement von Reinhard Roy auch in der sich fortsetzenden Komposition des weißen Objekts. Im Querschnitt gesehen ist jeder Abschnitt der Komposition ein Kreis mit zwei unterschiedlichen Hälften. Die eine ist ausgefüllte Fläche, die andere ist Durchblick unter einem Halbkreisbügel. Mit der wiederholten Kreisform, unantastbar und oberhalb jeder Willkür, erinnert Reinhard Roy, warum wir für unsere Orientierung das Grundelement brauchen, letztlich warum wir Kunst brauchen.
© Eugen Gomringer,
Dezember 2011