INWIEFERN REINHARD ROYS KUNST MIT DER WISSENSCHAFT VERWANDT IST

Noch in der Renaissance gingen Wissenschaft und Kunst zusammen.
Ein Leonardo da Vinci, ein Dürer verfügten als Künstler über die damaligen Kenntnisse von Geometrie und Mathematik, von Anatomie, Optik, Erdkunde, und es gelang ihnen gar, diesen Kenntnisstand durch eigenes Forschen zu erweitern. Heute beschreiten Wissenschaft und Kunst grundsätzlich getrennte Wege. Dennoch gibt es Berührungspunkte: beiden ist das
Exp e r i m e n t unverzichtbar, beide entwerfen M o d e l l e der Wirklichkeit,
M o d e l l e der Welt, das heisst, sie sind um eine Lebens- und Weltorientierung bemüht. Und schließlich: beide entfalten sich in einer besonderen Art von <F o r t s c h r i t t>. Einstein macht Kepler und Newton nicht ungültig, aber er relativiert sie; Picasso entlarvt die Höhlenmalerei nicht als Stümperei, aber er gewinnt der Wirklichkeit neue Aspekte ab.

Unter <Experiment> mögen Wissenschaft und Kunst zum Teil Unterschiedliches verstehen und letztlich Verschiedenes bezwecken. So experimentieren die Künstler, um zu neuen Formen, Farbkontrasten, Werkstrukturen und so zu neuen Wirklichkeitsmodellen zu gelangen, während die Wissenschaft sich gewöhnlich nicht damit begnügt, sondern experimentierend schließlich zu einer Veränderung <Zähmung> der Wirklichkeit vorzudringen versucht.

Gemeinsam wiederum ist jedoch dem wissenschaftlichen Experimentieren und dem Experimentieren der konstruktiv – konkreten Kunst, die REINHARD ROY in vierter, beziehungsweise fünfter Generation eigenständig weiterentwickelt, dass es systematisch und planmäßig erfolgen muss.
ROY ist beispielsweise 1986 auf einem Bauplatz in Frankfurt auf lochgestanzte Bleche gestoßen. Diese verwendet er bis heute als Farbschablone, um mit ihrer Hilfe seine
p u n k t g e r a s t e r t e n Farbtafeln hervorzubringen. Diese Methode hat sich als ausserordentich wandlungsfähig herausgestellt. Das heißt, ROY vermag der Farbrasterung auch noch nach mehr als zehn Jahren immer wieder neue Anordnungen, Bildstrukturen, Bildstimmungen abzugewinnen.

Ich sagte, Wissenschaft und Kunst strebten beide nach einem Wirklichkeits- und Weltmodell – doch mit dem Unterschied, dass die Modelle der Kunst stets a n s c h a u b a r, mit den Sinnen und dem Intellekt begriffen werden müssen, während die in F o r m e l n gefassten Modelle der Wissenschaft längst jede Anschaulichkeit hinter sich gelassen haben.

REINAHRD ROYS gemalten Wirklichkeitsmodelle sagen grundsätzlich zweierlei aus. Erstens: indem sie dem an sich monotonen, in alle Richtungen beliebig fortsetzbaren Punktraster eine eigene Rhythmik und Prägung verleihen, legen sie nahe, dass die menschliche Individualität sich in ihrer Einmaligkeit auch in einer anonymen, genormten, durchtechnisierten Welt behaupten kann. Zweitens: die Summe aller einen Rasterausschnitt bildenden Punkte, die sich meistens aus drei und mehr winzigen Farbpartikeln zusammen-setzen, verleihen dem einzelnen Bild eine je eigene Farbstrahlung.
Wobei ROY den P o i n t i l l i s m u s (SEURAT) weiterführend, die Farbe von den Gegenstandsmotiven abgelöst hat und sie nun als <Taten und Leiden des Lichts> (GOETHE) gleichsam freisetzt. Wobei hier nun auch ein Beispiel angeführt wurde, inwiefern Kunst
<f o r t s c h r e i t e t>: indem sie die <Lösung> eines Malers der Vergangenheit nicht etwa als <falsch> verwirft, sondern, sie weitertreibend, für die Gegenwart neu formuliert.

Fritz Billeter, Zürich, den 30.9.1998