Universalität des Künstlers
Reinhard Roy hat eine heute eher selten anzutreffende breite kreative Veranlagung: Er beschäftigt sich mit Malerei, Bildhauerei, Fotografie, Design und Architektur. So umfasst das vielseitige Werk von Roy Gemälde, Skulpturen, Objekte, Papierarbeiten, Fotografien, Arbeiten zur „Kunst am Bau“ und Entwürfe für Innenraumkonzepte. Außerdem gibt es bei ihm Skizzenbücher mit Landschaften, Architekturen und Objektskizzen, die permanent fortgeführt werden. An jedem neuen Ort hat er sogleich den Stift zur Hand und zeichnet alles, was ihm interessant erscheint. So erinnern seine Skizzenbücher an die Künstler und Architekten auf ihrer Grand Tour.
Die Kreativität kommt bei Reinhard Roy aus der Freude am Sehen, Beobachten, Sammeln und Gestalten. In seinen künstlerischen Konzepten spielt das Übergreifende und Interdisziplinäre die entscheidende Rolle. Auch Anregungen aus der Musik und der Natur fließen in die Arbeiten ein. Man könnte sagen, Reinhard Roy ist gleichzeitig Künstler, Designer und Ingenieur.
Als Ingenieur würde Roy sich wahrscheinlich selbst nicht sehen. Diese Einordnung ist in einem weiteren Sinne zu verstehen, denn seine Kunst entwickelt er fast wie ein Konstrukteur mit Präzision und seinen Überlegungen, Prinzipien und Ideen gehen Entwurfszeichnungen voraus. Dem Designer, dem Künstler und dem Ingenieur ist das schöpferische Entwerfen gemein. Es gibt zwischen den drei Berufen eine Schnittmenge, das ist der kreative Kern. Alle drei Berufe setzen auf ihre Weise Zeichen. Die Zeichensetzung steht für Fantasie. Der Künstler setzt durch Malen „Male“. Der Designer entwirft seine Objekte meist für die Serie. Mit den Produkten des Künstlers haben nur wenige Personen Umgang, mit Designprodukten dagegen viele. In der Fabrikation unterscheidet sich also der Designer vom Künstler, der in der Regel Unikate herstellt.
Die Ausstellung im Mies van der Rohe Haus mit Gemälden und Objekten von Reinhard Roy gibt Auskunft darüber, wie die Erfahrungen, die Roy, der Künstler als Designer bei der Gestaltung von Industrieprodukten gesammelt hat, in seine Kunst einfließen. Von der breiten Streuung seiner Talente zeugt auch seine Vita. Zu verschiedenen Lebenszeiten wurde der Designer, der Künstler und auch der Ingenieur akzentuiert. Zuerst erhielt Roy eine Ausbildung in einer Schlosserei, später arbeitete er in der Glas- und Keramikindustrie in der Lausitz. Die Erfahrungen der dort entworfenen Gegenstände, bei denen Form, Präzision, Materialität in Übereinstimmung gebracht werden mussten, flossen in die späteren Skulpturen des Künstlers ein. Das Studium an der Kunsthochschule Burg-Giebichenstein in Halle und die dann folgende Tätigkeit als Designer bei der Entwicklung von Interieurdesign für Wohn- und Industriebereiche wirkt selbstverständlich auch auf das künstlerische Werk von Roy ein.Das ist zum Beispiel daran erkennbar, dass ein zufälliger Fund eines Lochbleches auf einer Baustelle sein Interesse zu wecken vermochte, und den Anstoß für die künftige Beschäftigung mit dem Punkt bzw. dem Punktraster geben konnte. 1986 – so gibt seine Biographie Auskunft – wird der Punktraster zum charakteristischen Ausdrucksmittel seines Werkes. Der Punkt in allen Variationen und der Punktraster begleiten ihn von nun an und werden zu einem Markenzeichen.
Der Punkt als Markenzeichen
Was steckt dahinter, wenn sich jemand den Punkt aussucht? Und was, wenn der Punkt zum Gestaltungsprinzip erklärt und beispielsweise in ein Raster gebracht wird oder in die dritte Dimension? Der Begriff des Punktes kann verschiedene Bedeutungen haben und unterschiedlich definiert werden: mathematisch als Intersektion von zwei Geraden, als geometrisches Element; dann als flächiges Objekt, als Kreis oder auch als Schriftzeichen, als kleiner Fleck oder als Akzent. Roy beginnt mit einem kleinen Punkt und geht bis zur großen Kreisfläche. Der Punkt und der Punktraster ziehen eine Vielfalt von Gestaltungsmöglichkeiten nach sich, die Roy in den verschiedenen Medien jeweils auch unterschiedlich auslotet. Bei den Papierarbeiten und Objekten wird der Punkt eher als ein Einstich (lat.: punktus = Einstich) oder als Erhöhung thematisiert. Ein Punkt kann also auch ein Loch, eine Prägung oder eine Stanzung sein.
In den neuesten Objekten, die Roy unter der Bezeichnung „industrial pieces“ zusammenfasst, fühlt man sich an Steckdosen, Ufos, Flansche, Scharniere, Räder und Ähnliches erinnert. Bei diesen Entwürfen handelt es sich um ausgesprochen kompakte Objekte. Hier wurden aus Kreisflächen Großformen entwickelt. Sind es Anleihen aus der Industrie? Man könnte meinen, es handele sich um Gegenstände aus dem Alltag oder dem Industriedesign, die zur Kunst erklärt wurden. Aber Roys’ Objekte sind nicht vergleichbar mit den Ready-mades von Marcel Duchamp oder mit der Pop-Art, die Alltagsgegenstände zur Kunst erhoben hat. Es scheint, als würde sich Roy der Formensprache der Industrie bedienen. Auch die Bezeichnung der Werkgruppe als „industrial pieces“ assoziiert eine solche Herangehensweise. Das künstlerische Gestaltungsprinzip bei Roy bleibt jedoch stets dem Punkt und dem Punktraster verbunden. Denn die Form der Objekte wird von zwei, drei oder mehr verschieden großen Kreisen bzw. Punkten definiert. Die Formen bauen sich additiv aus gestaffelten Zylindern auf, die im Durchmesser variieren. Assoziationen an Alltagsgegenstände oder Design sind hier eher als ein Mittel der Verfremdung zu verstehen. Diese Irritation nutzt der Künstler nicht ohne Ironie. Dafür stehen auch die feine Verarbeitung der Objekte und der edel polierte Anstrich, wie beispielsweise das Objekt O-1504/2007 mit seiner schwarz polierten Oberfläche und dem grün lackierten Innenraum, der zur Betonung der Räumlichkeit heller angelegt wurde. Die Objekte, die von ihrer profanen Verwendung befreit sind, führen den Betrachter in das Reich der Kunst. In den Gemälden von Roy kommt der Punktraster auf ganz andere Weise zum Einsatz. Im Werkprozess beginnen die Gemälde zunächst als monochrome Malerei. In einem weiteren Arbeitsschritt werden Punkte durch eine Lochschablone aufgesprüht. Man könnte sagen, dass dies einer bestimmten Art des Graffitis ähnelt. In der Straßenkunst werden Schablonen zum Erstellen von so genannten „Pochoirs“ genutzt, um kleinere Grafiken beliebig oft zu reproduzieren. Roy sprüht wie ein Sprayer die Punktraster auf, verschiebt die Schablone leicht und erzeugt so beispielsweise durch einen Farbauftrag von dunkel nach hell spezielle optische und räumliche Effekte. Aus einer zweidimensionalen Fläche und einer beinahe unendlichen Anzahl von Punkten, entsteht Räumlichkeit. Die imaginäre Tiefe der Gemälde wird durch strukturelle Komponenten, wie dem Wechsel von Statik und Variation des Abstandes der einzelnen Raster oder durch eine spezifische Farbauswahl erzeugt. Die räumliche Illusion, die sich beim Betrachten der Gemälde einstellt, hat jedoch nichts mit der traditionellen Perspektive zu tun. Zunächst werden die Rasternetze auf den Bildern als monochrome Fläche wahrgenommen. Erst mit einer gewissen Entfernung vom Bild beginnen die Punkte zu tanzen. Es bildet sich ein Moiréeffekt. Bei der Betrachtung kommt es durch sehphysikalische Gegebenheiten zur Irritation. Der Punktraster wird lebendig. Und schon befindet man sich in einer Art von Meditation, die über das eigentliche Gemälde hinausgeht. Diese Wahrnehmungen erzeugen bei jedem Betrachter ganz unterschiedliche Bewegungen.
Roys Objekte und Gemälde gehen mit dem Mies van der Rohe Haus eine subtile Verbindung ein: Die voluminösen und kompakten Werke füllen den Raum des Hauses Lemke und definieren gleichzeitig einen eigenen Raum. Der Künstler hat sich mit der Wahl des Gestaltungsprinzips, das von einem Punkt bzw. einem Kreis ausgeht, auf ein grundlegendes Ausdrucksmittel konzentriert. Mit dem Punkt, also einer einfachen geometrischen Grundfigur, gelingt es ihm, unablässig neue Welten zu konstruieren; bei ihm entsteht ein ganzer Kosmos von Möglichkeiten. Aus wenig wird viel. In diesem Punkt trifft Roy auf Mies’ Motto: Weniger ist mehr.
Wita Noack
Berlin, September 2007